Eine Schule für alle - geht das?

Verschiedenheit und Vielfalt sind kennzeichnende Merkmale der Volksschule. Sie betreffen (Entwicklungs-) Alter, Geschlecht, Leistung, Verhalten, Sprache und Herkunft der Schülerinnen und Schüler, aber auch die Lehrpersonen haben je unterschiedliche Hintergründe. Dies ist herausfordernd und bereichernd zugleich

 

Die Frage, die immer wieder gestellt wird, und auch in der Politik und in den Medien anklingt, lautet: Können wirklich alle Schülerinnen und Schüler integriert werden? Ist Integration sinnvoll? Oder überfordert sie das System?

 

Die Antwort ist auch eine Frage der Haltung. Ich persönlich verfolge als Vision die Idee der Inklusion, die noch weiter geht als die Idee der Integration. Was dies bedeutet, beschreibe ich im folgenden Beitrag. 

Integration - Inklusion? Was bedeuten die Begriffe?

Das Schweizerische Zentrum für Heilpädagogik definiert die Begriffe wie folgt: 

Integration bezeichnet die Eingliederung von Menschen in Systeme (z.B. eine Schule), die für die Allgemeinheit erstellt wurden. Dies im Unterschied zur Separation, bei der spezielle Strukturen für eine Auswahl von Menschen geschaffen wurden. 

 

Inklusion wird häufig als Vision verstanden, in deren Richtung die Gesellschaft sich entwickeln soll. Die Gleichwertigkeit und die Unterschiedlichkeit der Menschen finden ihren Platz, die Vielfalt ist Normalität.  Schulische Inklusion meint die vollzeitige wohnortsnahe Regelschulung aller Schülerinnen und Schüler. Die Schule hat sich den Kindern und Jugendlichen anzupassen. Schulische Inklusion duldet keine Sonderschulen. Selektion widerspricht der Inklusion.

 

In der Abbildung werden die verschiedenen Formen veranschaulicht. Quelle: SZH

Was sagt die Bildungsforschung?

Das Heilpädagogische Institut der Universität Freiburg beschäftigte sich über Jahrzehnte mit der Frage, ob für Kinder mit Schulschwierigkeiten eine Beschulung in Sonderklassen oder Sonderschulen angebracht ist. Im Rahmen eines Nationalfonds-Programms wurden die Langzeitwirkungen der schulischen Integration untersucht. (Nicht in die Studie einbezogen wurden Menschen mit einer geistigen Behinderung oder mit schweren Mehrfachbehinderungen.)

 

Die Ergebnisse zeigen, dass die Separation von schulschwachen und sozial benachteiligten Kindern in Sonderklassen und Sonderschulen deren Chancen auf berufliche und soziale Integration im Erwachsenenalter deutlich verschlechtern. Separation wirft ihre Schatten über die Schulzeit hinaus bis in die berufliche und soziale Integration im jungen Erwachsenenalter. Ehemalige Sonderschülerinnen und -schüler haben ein etwa vervierfachtes Risiko, drei Jahre nach Schulabschluss keinen Zugang zu einem Beruf zu finden und damit auch sozial isoliert zu werden. Dies zeigt sich auch dann, wenn die Jugendlichen aus Klein- oder Sonderklassen mit bezüglich Intelligenz, Schulleistung und sozialer Herkunft ähnlichen Regelklassenabgängerinnen und -abgänger verglichen werden.

 

Integrative Beschulung führt gemäss dem Forschungsteam zu besseren Schulleistungen der integrierten Kinder, zu einem höheren Fähigkeitsselbstkonzept und zu einer besseren sozialen Integration. Und sie bremst die anderen Schülerinnen und Schüler nicht (Eckhart, Michael et al. 2011: Langzeitwirkungen der schulischen Integration. Bern: Haupt).

Wie wird Integration umgesetzt?

Aus der Statistik der Sonderpädagogik des BFS, geht hervor, dass 2022/23 1,4% aller Lernenden eine Sonderklasse (Einführungsklasse, Klasse für Fremdsprachige oder andere Sonderklasse) und 1,9% eine Sonderschulklasse besuchten. Der Anteil der Lernenden der obligatorischen Schule mit verstärkten sonderpädagogischen Massnahmen belief sich auf 3,8% und jener der Schülerinnen und Schüler mit einer Lehrplananpassung auf 4,8%.

 

Im Wallis ist der Anteil der Lernenden im separativen Unterricht mit 1,2% vergleichsweise tief. In Genf, Neuenburg, Baselland und Schaffhausen sind es jeweils über 5%. Diese Unterschiede weisen auf unterschiedliche Ansätze bzgl. separativer oder integrativer Beschulung hin. 

Gemäss dem Familienbericht 2018 des Büro Bass hat der Kanton Wallis "ein fortschrittliches Dispositiv erarbeitet, das die Unterstützung von Kindern zwischen 0 und 20 Jahren mit besonderem Unterstützungsbedarf sicherstellt." Dies umfasst Hilfsmassnahmen wie die heilpädagogische Früherziehung, pädagogisch-therapeutische (Logopädie und Psychomotorik) sowie psychologischen Massnahmen und die sonderpädagogischen Massnahmen. Sämtliche Massnahmen sind für die Familien kostenlos. Das Walliser Konzept ist Teil der interkantonalen Vereinbarung über die Zusammenarbeit im Bereich der Sonderpädagogik. Das Wallis war der erste Kanton, der diese Vereinbarung unterzeichnete.

 

Doch der Bericht weist auch darauf hin, dass die für die Betreuung von Kindern mit Unterstützungsbedarf vorgesehenen Ressourcen im Vergleich zu anderen Kantonen knapp bemessen sind. Das Wallis positioniert sich diesbezüglich im Kantonsvergleich im unteren Bereich.

Auf dem Weg zur inklusiven Gesellschaft

Eine Schule für alle ist aus der Sicht der Bildungsforschung angezeigt. Die Umsetzung präsentiert sich unterschiedlich und ist herausfordernd. Und es werden wieder öfter kritische Stimmen laut. 

 

Ich habe keine eindeutige Antwort auf die Ausgangsfrage. Eine Schule für alle - geht das? Mit den aktuellen politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ist die Umsetzung schwierig, aber in diese Richtung müssen wir arbeiten. Die Frage, ob wir zurück zur separativen Schule wollen, ist sowieso obsolet: Die Schweiz hat 2014 die Behindertenrechtskonvention der UNO ratifiziert und sich damit dazu verpflichtet, ein integratives Bildungssystem zu gewährleisten (Art. 24 Bildung).

 

Inklusion bleibt eine Vision, die für mich handlungsleitend ist. Ich halte es mit dem Forschungsteam um Michael Eckhart: "Das Wissen, dass der Weg zu dieser Vision immer wieder durch den elitären Bildungsbegriff versperrt wird, darf uns nicht zu Anpassern an den Zeitgeist und seine politischen Strömungen machen. Es ist zwar schwierig, die Kluft zwischen Realitäten und Visionen gelassen zu ertragen. Aber wenn wir nicht übersehen, dass es eine Kluft gibt, werden wir auch in Zukunft die angemessenen Fragen finden und bearbeiten können" (Eckhart et al. 2011, S. 114). 

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